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 Eine Geschichte zu Weihnachten

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Hühnchen
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Eine Geschichte zu Weihnachten Empty
BeitragThema: Eine Geschichte zu Weihnachten   Eine Geschichte zu Weihnachten EmptyDo Dez 18, 2008 5:29 pm

Hier ist wie versprochen meine Wettbewerbseinsendung. Es gab leider eine blöde Zeichenbegrenzung, wegen der ich kürzen musste.

Kutschen ratterten durch die Straßen. Alle waren sie auf dem Weg zum Dom. Die Leute, die etwas zu sagen hatten, die kamen hinein, nicht aber das Gesindel. Jo war nicht in feierlicher Stimmung. Missmutig betrachtete er die Menschen, die sich an ihm vorbei schoben. Er würde nicht in den Dom hinein kommen. Ein Waise war er, keiner wollte ihn mehr haben. Sein Atem blieb in einer dichten Wolke in der Luft stehen, als er sich die braunen Locken aus der Stirn zu blasen versuchte.
„Auch welche, Junge?“
Er drehte sich um. Vor ihm stand ein alter Mann und hielt ihm eine Tüte mit gebrannten Maronen entgegen. Jo wollte sie nicht annehmen, aber sein Magen widersprach ihm mit einem lauten Knurren.
„Danke“, murmelte er und nahm die Tüte.
„Kannst du nicht hinein?“
Der Mann nickte zum Dom. Jo schüttelte den Kopf.
„Ich habe die Weihnachtsgeschichte zu Hause – für einfaches Volk ist dort sowieso kein Platz.“
Jo zögerte. Die Auffassung des Mannes war ihm bekannt und sympathisch, aber dennoch – er ging nicht mit Fremden. Jeder brauchte Geld, jeder brauchte Essen, auch er selbst, und er hatte nur noch wenige Groschen in den Taschen. Jo sah zum Dom hinauf, der sich majestätisch über Mainz erhob. Nicht lange war es her, dass er sich dort mit einem Mann getroffen hatte. Der Mann hatte ihm Geld gebracht und Essen. Johannes Gensfleisch hatte er sich genannt, seinen Vater.
„Du musst verstehen, Johann“, hatte er leise gesagt, „Niemand darf von dir erfahren.“
Jo wusste nicht, was er tun sollte – sein Vater, sein gut verdienender Vater, der an dem Werk arbeitete, wie er es nannte, der wollte ihn nicht, der konnte ihn nicht brauchen, da kam jetzt irgendein Fremder daher und gab ihm Maronen und wollte ihm Geschichten erzählen. Jo hatte lange gelebt, lange dafür, dass Kirchen und Hauseingänge sein Unterschlupf waren. Er hatte sehr wohl gelernt, dass er nicht geliebt wurde, auch nicht an Weihnachten. Wenn der Duft der Lebkuchen durch die Straßen zog, fühlte er sich umso einsamer. Das Angebot des Mannes schien ihm durchaus verlockend, vielleicht hatte er sogar Feuer, damit er sich die steifen Hände wärmen und die Kleider auftauen konnte!
„Ich komme mit“, sagte er leise.
Die Mundwinkel des Mannes zuckten, aber einem Lächeln kam die Frage zuvor:
„Wie heißt du denn?“
Während Jo noch überlegte, ob der Fremde seinen Namen verdient hatte, musterte er ihn im Gehen. Obwohl sein Mantel zerfetzt und dreckig war, trug er in stolz über seinem Haupt, sein schütteres graues Haar ergab gemeinsam mit seinen strahlend blauen Augen eine beinahe greifbare Autorität.
„Jo. Jo heiße ich.“
„Jo? Einfach Jo?“
„Jo, einfach Jo“, bestätigte Johann.
Wie sein vollständiger Name lautete, brauchte der Mann schließlich vorerst nicht zu wissen.
Er ging hinter dem Mann her. Der führte ihn durch ganz Mainz, zwischenzeitlich fragte Jo sich, warum er ihm überhaupt folgte. Dann gab ihm sein Magen die zufriedene Antwort, die Maronen auslösten, wenn er sonst nichts zu Essen bekam.
Irgendwann, als Jo schon dachte, sie würden das zu Hause des Alten nie erreichen, blieb der stehen.
„Da sind wir“, sagte der Mann wie zur Bestätigung von Jos Gedanken.
Er schob die Tür auf und zog Jo mit sich hinein, bevor Jo die Chance hatte, sich die Fassade des Hauses anzusehen. Jos Herz begann auf und ab zu hüpfen, als der Mann ein Feuer entfachte.
„Setz dich ruhig“, sagte er und wies mit der Hand auf eine niedrige Bank.
Johann setzte sich und wartete darauf, dass der Mann zu lesen begann. Er hatte die Weihnachtsgeschichte noch nie zuvor so gehört, wie man sie in der Kirche zu hören bekam. Nie so, wie sie in der Bibel stand. Kaum einer konnte lesen, geschweige denn besaß eine Bibel. Wie also dieser zerlumpte Mann? Allmählich kamen Jo die Zweifel.
„Weißt du, die Geschichte ist einfach in meinem Kopf“, erzählte der Alte.
Enttäuscht sackte Jo in sich zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Wozu also das Ganze?
„Ich kenne sie so, wie sie in der Bibel steht. Ich habe sie gelesen. Immer wieder.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
„In jenen Tagen erließ der Kaiser Augustus den Befehl ...“
Jo schlief ein. Aber die Geschichte hatte er noch zu Ende gehört.
Am nächsten morgen wachte Johann mit steifen Gliedern auf. Verwirrt sah er sich um. Er lag im Schnee unter einer dünnen weißen Decke, die die Nacht über ihn gehaucht hatte. Langsam stand er auf und streckte sich. Er griff in seine Taschen, um die letzten Groschen auf ein bisschen Brot zu verwenden. Nichts war mehr da. Da erinnerte er sich an den Tag zuvor. An den zerlumpten Mann. Jeder brauchte Geld, auch er. Aber auch an die Geschichte. Es war Johanns schönstes Weihnachten gewesen.
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